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Heiligabend draussen bei Unbekannten

Als ich von der Nachricht hörte, dass der Gemeindekirchenräte unseres Pfarrsprengels alle Präsenzgottesdienste bis 10. Januar abgesagt hat, war ich stolz und tief beeindruckt von dieser schwerwiegenden Entscheidung. Wohl wissend, dass dies für viele Menschen einen sehr schmerzlichen Verzicht bedeutet, war ich wirklich dankbar, dass meine Gemeinde den Schutz vor dem lebensbedrohenden Virus für höher bewertet als das Recht zur Ausübung religiöser Rituale.

Ich erinnerte mich an den Heiligabend vor zwei Jahren, als meine Frau und ich nicht am örtlichen Heiligabend-Gottesdienst teilgenommen hatten. Hier mein Bericht von damals:

 

Weihnachten mit Unbekannten

Am diesem Heiligen Abend 2018 sind wir allein. Keine Kinder, keine Enkel, keine Freunde. Ich erzähle meiner Frau Margot von dem Weihnachtsfest vor 15 Jahren, kurz bevor wir uns kennen gelernt haben, als ich ganz alleine war und am ersten Feiertag abends in Berlin ins Kino ging. In dem riesigen Saal des Zoo-Palastes hatten sich damals ein Liebespaar, zwei andere männliche Singles um die 30 und ein offenbar Betrunkener eingefunden. Hunderte von Plätzen blieben leer. Aber es war irgendwie auch ein tolles Erlebnis.

Wir beschließen, dieses Jahr am Heilig Abend einfach mal die Berliner Innenstadt zu durchqueren. Ausschau zu halten, wie diese Millionenstadt Weihnachten feiert, genauer gesagt die draußen Gebliebenen. Jene, die abreisen oder ankommen, diejenigen, denen Heilig Abend nichts bedeutet, oder die sich davor fürchten, denjenigen die arbeiten müssen und natürlich denen, die kein Dach über dem Kopf haben.

Erste Station:

Berliner Dom. Im Zweistundentakt finden hier in der größten deutschen evangelischen Kirche ab 14:00 Uhr Weihnachtsgottesdienste statt. Am Eingang des Doms das Schild: „Der Dom ist überfüllt, nächster Einlass: 19:30 Uhr „. – Die Länge der Schlange kommt mir fast so lang vor, wie damals vor 34 Jahren vor dem Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz. Dennoch bekommen wir noch einen guten Sitzplatz mit schönem Blick auf den Altar und die große schlichte in Naturholz geschnitzte Krippe auf der rechten Seite.


Schon in der Schlange hatten wir viele Sprachen gehört, nur kein Deutsch. Sind es Touristen oder sind es in Berlin lebende Ausländer, die sich hier an diesem zentralen kirchlichen Ort zusammenfinden wollen, um Christi Geburt zu feiern? Oder kamen sie, um einfach nur zu erleben, wie deutschen Christen Weihnachten feiern? Französisch, Russisch, Japanisch, Spanisch, und die Sprache hinter uns, das könnte Indonesisch sein. Einen Moment befürchte ich, dass dieser Weihnachtsgottesdienst auf extrem knappe Botschaften verkürzt und dann in vier Sprachen vorgetragen wird. Dem ist aber nicht so. Der gesamte Gottesdienst findet nur in deutscher Sprache statt.
Als wir das erste gemeinsame Lied singen „Macht hoch die Tür“, merken wir, die Deutschen sind in der Minderheit, zumindest die singenden. Ich komme mir vor, wie bei einem Flashmob im Hauptbahnhof, den ich mir seit Jahren wünsche, wo nur einige wenige fröhliche und laute Stimmen innerhalb einer großen Menschenmenge erklingen.

Was für eine wunderbare Stimmung, all die weltbekannten deutschen Weihnachtslieder in einer Kirche mit 1400 Sitzplätzen gesungen aus – gefühlt – 140 weihnachtsfrohen Christen-Kehlen. Die Orgel tut ihr übriges und puscht uns, endgültig in weihnachtliche Gefühls-Sphären mit einem voluminösen Klang, den ich so in meinem Leben noch nie vorher hörte.

Zweite Station:

Ohne zu wissen, was auf uns zukommt, hatte Margot drei Thermoskannen, weihnachtlich gewürzten Glühwein angerichtet, und wir hatten zehn große Schokoladenweihnachtsmänner dabei, mit denen wir Menschen, die heute Abend nicht unterm Weihnachtsbaum feiern können, eine Freude machen wollten.


Überraschung am Bahnhof Friedrichstraße: die beiden Wohnungslosen, die sich dort unter der Brücke und über einem wärmenden Lüftungs-Rohr ihren Schlafsack ausgebreitet haben, dekorierten stolz auf dem Mauervorsprung des alten Bahnhofsgebäudes die Gaben, die sie bei irgend einer Weihnachtsfeier für Obdachlose geschenkt bekommen hatten. Plätzchen, Stollen, Schokolade.

Wie schön, zu wissen, dass eine Weltmetropole wie Berlin zumindest einen Teil der Ärmsten, nicht alleine lässt, sondern mit ihnen teilt.

Wir fahren nach Westen, zum Breitscheidplatz, an dem Margot 2016, nur wenige Stunden bevor der Todes-Lkw zwölf Menschen in den Tod riss, durch Schutzengel vor Schlimmerem bewahrt wurde.

Auf den Straßen sind viel weniger Autos und Menschen als sonst unterwegs. Wo wir Stimmen hören, klingen sie fast ausschließlich in fremde Sprachen. Offenbar ganz viele Touristen und solche Berlinerinnen und Berliner, die aus anderen Ländern hierher gekommen mit Heiligabend keine persönliche Verbindung haben.

Was auffällt, sind die leeren Busse. Dennoch, die Linien müssen bedient werden. Da schnappe ich mir spontan einen Weihnachtsmann, den Glühwein lass ich stehen und betrete einen der Doppeldecker, in dem ein Busfahrer auf das grüne Licht der Ampel wartet. Ernst schaut er drein, macht auf mich einen Eindruck eines verantwortungsbewussten Busführers, der offenbar nicht gerade erfreut ist, statt unter einem Tannenbaum im Fahrerhäuschen eines BVG-Busses zu sitzen. Er weiß nicht so recht, wie er reagieren soll auf den Herrn, der ihm da gerade zur Heilig-Abend-Schicht einen Weihnachtsmann überreicht. Doch dann erhellen sich seine Züge und ein Strahlen strömt aus dem Gesicht, das ich noch vor zwei Sekunden nicht für möglich gehalten hätte. Um seinen Linientakt nicht zu verzögern, springe ich schnell wieder aus dem Bus und sehe nur aus den Augenwinkeln: dieser Bus ist nicht ganz leer – verteilt auf die untere Etage sitzen sechs oder acht Menschen, die das alles miterlebt haben. In ihren Gesichtern sehe ich frohe Überraschung.

Am Fuße der Gedächtniskirche treffen wir eine Frau, dick eingemümmelt in mehrere Mäntel und Schals mit großen Ikea-Einkaufstüten, wie sie dem Klischee der Wohnungslosen auf dem Kurfürstendamm entsprechen. Wir gehen auf sie zu und wünschen ihr „Frohe Weihnachten!“, schenken ihr den Weihnachtsmann und laden sie zu einem Becher Glühwein ein. Sie kann so gut wie kein Deutsch, aber wir erfahren, dass sie aus Tschetschenien ist. Auf die Nennung der Hauptstadt Grosny reagiert sie mit leuchtenden Augen, so als ob sie nicht erwartet hätte, dass im fernen Berlin irgendjemand einen Städtenamen aus ihrer Heimat wüsste. Die wenigen Gesprächsfetzen, die wir verstehen, sollen wohl bedeuten, dass sie nur noch fünf Tage in Deutschland ist und dann wieder nach Tschetschenien zurück muss. Der heiße Glühwein hat sie ein wenig erwärmt und der knallrote Weihnachtsmann vielleicht auch ihr Herz.

Und noch ein Busfahrer nimmt verdattert und dankbar das Geschenk des Weihnachtsmanns entgegen und fragt (für ihn durchaus nicht unlogisch): „Kriegen das heute Abend alle Busfahrer?“ Ich muss es leider verneinen – aber wäre das nicht eine tolle Forderung für die Gewerkschaft ver.di?

Und dann ist da noch der Mann auf dem Koffer-Kuli vor dem Haupteingang zum Bahnhof Zoo. Er sitzt auf einer Unmenge von Plastiktüten, und auch er hatte wohl das Glück, heute schon an einer Weihnachtsfeier teilgenommen zu haben, wir sehen vakuumverpackte Lebensmittel. Auch er strahlt über das ganze Gesicht über den Weihnachtsmann und lehnt ganz diszipliniert den Glühwein ab, er nehme Medikamente und dürfe deshalb keinen Alkohol zu sich nehmen. Von ihm erfahren wir, dass er eigentlich aus Italien stammt, unten im Süden des Stiefels in der Nähe der wunderbaren Amalfi-Küste, von der er uns vorgeschwärmt, aber sein gutes Deutsch mit unüberhörbar hessischer Dialektfärbung verrät uns, dass er schon lange in Deutschland ist. Vor wenigen Tagen ist der irgendwo im kalten Regen eingeschlafen, und nur durch ein künstliches Koma konnten seine Kräfte wieder soweit hergestellt werden, dass er jetzt schon wieder unter freiem Himmel lebt. Ob die Geschichte stimmt, dass er – sobald er nach den Feiertagen vom italienischen Konsulat neue Papiere bekäme, erst mal in Urlaub in seine alte Heimat fliegt? Wer weiß. Zu gönnen wäre es ihm. Kann aber auch sein, dass das die Form ist, mit der er seine Würde hochhalten will. Nach dem Motto: „Ich bin nicht so einer, wie ihr denkt“. Dass er schon bessere Tage erlebt hat, merkt man an seinem gepflegten deutschen Wortschatz. Wir wünschen ihm gute Reise „Buon viaggio e buon Natale“. (Wörtlich: buon Natale, zu Deutsch: „gute Geburt „, der italienische Weihnachtswunsch).

Auf dem Weg durch die U-Bahn-Unterführung bleiben wir vor einem Schaukasten der Verkehrsbetriebe stehen. Ein Plakat informiert über 5 große Quartiere, wo auf Menschen, „die noch keine Übernachtungs-Möglichkeiten haben“, ein warmes Bett wartet. Auch das ist uns neu und macht uns diese Stadt wieder ein wenig sympathischer.

Irgendetwas habe ich mir beim Sprint zu dem zweiten Busfahrer gezerrt, deshalb beschließen wir, den Weg nach Hause anzutreten, und treffen noch zwei Rucksacktouristen, die augenscheinlich auf den Bus warten. „Do you know the german drink, which is called: GLÜHWEIN?“- Ja sie wissen offenbar sofort, worum es geht und nehmen lachend und froh die Einladung zum wärmenden Getränk an. Sie kommen gerade aus Spanien, ihre Sprache lässt aber als Herkunftsland die USA vermuten, sie scheinen frisch verliebt und freuen sich wie die Schneekönige auf Berlin, „the wonderland“.

Sie haben Quartier im Süden der Hauptstadt bei einem Freund gefunden und sind total gespannt, was die Stadt ihnen zeigen wird. Und sie sind es, die an diesem Abend auch uns fragen: Wo kommt ihr her, warum macht ihr das? Wir erzählen ein wenig und sagen, dass wir jetzt gleich nach Wandlitz, an den Stadtrand der großen Stadt zurückfahren werden in unser warmes Häuschen und das weitere Weihnachtsfest genießen.

Es ist ganz schön kalt heute Nacht. Trotz Pudelmütze, Handschuhen und Schal, freue ich mich, im Auto wieder aufgewärmt zu werden.

Was haben wir heute für leuchtende Gesichter gesehen. Ohne dass wir viel dafür getan, oder investiert hätten. Einfach abgegeben von der Freude, von dem Licht, von der Liebe dessen, was wohl vor 2000 Jahren in Bethlehem geschehen ist. Ähnlich karg, ähnlich kalt und genauso einsam, wie wir die Menschen angetroffen haben, denen wir eine kleine Freude machen konnten!

Was für eine schöne Weihnacht!

Mathis Oberhof