Lieddichter*innen und Komponist*innen aller Epochen haben sich mit der Thematik des Leidens und Sterbens Jesu Christi sehr intensiv und auf unterschiedliche Weise auseinandergesetzt. Kirchenmusikalisch hat gerade die Passionszeit, die auch Fastenzeit genannt wird, eine ganze Menge zu bieten: vom schlichten Chorlied bis hin zu den großen Passionen nach Johannes und Matthäus von Johann Sebastian Bach. Aber nicht nur für Instrumentalist*innen oder Chöre bietet diese Zeit des Kirchenjahres ein interessantes Repertoire – nein, auch in unseren Gesangbüchern wartet noch so mancher Schatz darauf, gehoben zu werden.
Den Anfang der Passionszeit markiert nach dem Aschermittwoch der Sonntag Invocavit, in dessen Woche wir uns gerade befinden. Der Name Invocavit leitet sich vom Beginn der lateinischen Antiphon ab: „Invocavit me, et ergo exaudiam eum“ (Ps 91, 15); deutsch: Er ruft [mich] an“.
Mit der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder (sog. Perikopenordnung), die zuletzt 2018 noch einmal grundlegend reformiert wurde, stehen für jeden Sonn- und Feiertag nunmehr jeweils zwei Wochenlieder (Graduale) auf dem Plan: man kann sich für eines entscheiden, aber genauso gut auch beide für den Gottesdienst auswählen. Ergänzt werden die Wochenlieder dann je nach Art und Umfang des Gottesdienstes noch durch Eingangs-, Predigt- und Schlusslied, ggf. weitere Lieder und verschiedene mehr oder weniger festgelegte liturgische Gesänge, die dem Gottesdienst als solchen in ihrer Gesamtheit und schlüssigen Aufeinanderfolge eine klare Struktur geben.
Die beiden Wochenlieder für den Sonntag Invocavit sind „Ein feste Burg ist unser Gott“ (EG 362), das – nahezu global bekannt – wohl als die „protestantische Hymne“ schlechthin gelten darf und „Ach bleib mit deiner Gnade“ (EG 347), das eher ökumenischen Charakter hat und natürlich auch im katholischen Gesangbuch Gotteslob (GL 436) vertreten ist.
An dieser Stelle sei Ihnen das zweite Wochenlied „Ach bleib mit deiner Gnade“ in Wort und Musik an die Hand gegeben.
Der Text dieses Liedes stammt von dem in Thüringen geborenen lutherischen Theologen Josua Stegmann aus dem Jahre 1627 und wurde in seinem Christlichen Gebet Büchlein veröffentlicht, das damals für die bevorstehenden Notzeiten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges geistlichen Beistand bieten sollte. Die sechs bittenden Strophen (Gnade – Wort – Glanz – Segen – Schutz – Treue) folgen einer festen Struktur.
Die noch etwas früher als der Text entstandene Melodie (1609) zählt zu den schönsten der Welt, was nicht nur an ihrer Schlichtheit und Eingängigkeit, sondern auch an ihrer konzentrierten „Architektur“ liegen mag. So ist sie über die Jahrhunderte lebendig geblieben und wird jedenfalls im Evangelischen Gesangbuch weiterhin noch regelmäßig auf den Sterbechoral „Christus, der ist mein Leben“ gesungen. Sie wurde ebenfalls von einem Thüringer mit dem klangvollen Namen Melchior Vulpius (eigentlich Fuchs) geschaffen. Schöne Melodien waren schon immer auch eine Inspiration für andere Meister. Heinrich Schütz beispielsweise schrieb einen Chorsatz zu dem Lied (SWV 445) und eine weitere sehr beachtliche, groß angelegte musikalische Bearbeitung stammt aus der Feder des spätromantischen Leipziger Komponisten Sigfrid Karg-Elert (Symphonischer Choral für Orgel, op. 87 Nr. 1).
Nun möchte ich Sie aber gern zum Singen unseres Wochenliedes einladen:
Ach bleib mit deiner Gnade – hier in einer schönen Version für Chor mit zum Teil variierten Strophen zum Hören und / oder Mitsingen:
https://www.youtube.com/watch?v=PUYmh4j9j8s
Herzliche Grüße, bleiben Sie gesund und behütet,
Ihr Stefan Händel
Kirchenmusik Basdorf / Ökumenischer Kirchenchor Basdorf (ÖKB)